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Kultur ist überflüssig


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von Mathias Jakobs am 27.Jul.2003 11:24

Ich habe heute morgen einen Aufsatz von baudrillard gelesen. Das ist dieser Kultur-Philosoph, dessen französisch-barocke Gedankenkringel ich eigentlich nicht mag.
Das folgende fand ich aber so bedenkenswert (und manchmal auch etwas geschraubt), dass ich den Text von der Internet-Seite der FR runtergeladen und mit meinen Anmerkungen versehen hab.
Auf dass andere auch was anmerken.


Kultur ist überflüssig

Das umfangreiche Werk des französischen Philosophen Jean Baudrillard besteht zu nicht geringen Teilen aus zeitdiagnostischen Skizzen, in denen er politische Diskussionen und Alltagsereignisse zum Anlass für weiter reichende kulturkritische Überlegungen nimmt. Im folgenden Beitrag über das Bestreiken verschiedener Kulturfestivals durch freie Mitarbeiter, der in der französischen Tageszeitung "Liberation" am 16. Juli erschien, verhandelt er das Phänomen des kulturellen Selbstmords im Zeitalter des Spektakels

[Die "intermittents" haben in diesem Jahr in Frankreich durch einen Streik die wichtigsten Theater-Sommerfestivals in Frankreich lahmgelegt. Sie sollten nach ihrer notwendigerweise saisonal befristeten Arbeit keine Arbeitslosen-Unterstützung mehr erhalten.]


Revanche gegen das Spektakel / Von Jean Baudrillard

Das Ritual des gesellschaftlichen Jahres wollte, dass man von den Frühjahrsstreiks zu den Sommerfestivals überging. Genau diese Politik der Auslöschung des Sozialen durch das Kulturelle, das Fest und das Spektakel hat die Bewegung der intermittents, der freiberuflichen Theaterkünstler und -techniker, in diesem Jahr durchbrochen, und damit die Strategie der Demobilisierung, die im letzten Frühjahr noch so schön funktionierte. Der Streik hat die Mauer der Ferien unterhöhlt, und was immer auch seine Inhalte und Aktionsarten sein mögen: es ist ein Ereignis.
[ereignis - echt, positiv, neu!? spektakel - oberfächlich, negativ, alt?]

Ein Ereignis ist auch, dass es sich bei den Akteuren um eine nutzlose Fraktion, die nutzlose Zeichen produzierende Fraktion handelt, und nicht um die Eisenbahner oder die Lehrer. Auch die Opfer des Streiks sind andere: nicht mehr die Nutzer der Metro oder des Zugs, sondern die Nutzer des Überflüssigen und der immateriellen Konsumgüter. Politisch gesehen tut dies viel mehr weh, rührt es doch an den Grundvertrag und das symbolische Bild einer Gesellschaft. Es ist schon interessant, wenn man das nationale Kulturerbe plötzlich zu einem verfemten Teil verkümmern sieht, und keiner weiß, wie man es loswerden kann.
[nutzlos - eher: zweckfrei. nicht ausnutzbar.
Frage: wer will das kulturerbe loswerden, inwiefern ist es verfemt? weil es das überflüssige ist? aber vorher meint er überflüssig, nutzlos doch noch nicht negativ. oder doch?
mir kommt der gedanke, dass die ironie hier in diesem stil zu einer art bedeutungs-wolkenbildung geworden ist.]

Man kann der Macht [den bestreikten kultur-arbeitgebern, also dem staat?] dafür gar nicht genug Anerkennung zollen, dass sie durch ihre unglücklichen Intitiativen diese Situation selbst geschaffen, dass sie der allgemeinen Verblödung unwillentlich Schach geboten hat, dieser Orgie der Kreation und kulturellen Konsumtion, deren Geiseln und Komplizen wir alle sind (wobei allerdings die "als Geiseln genommenen" Zuschauer, gepackt vom Stockholm-Syndrom, manchmal den Part der Streikenden ergriffen haben). Man kann sich nur freuen über diese Verblendung der Macht, die offensichtlich den kolossalen Effekt der Ablenkung von Konflikten, der von Freizeit und Kultur ausgeht, nicht begriffen hat (schon Nicollini gelang es in den achtziger Jahren, den Terrorismus durch die Verbreitung von Festen abzuwenden - bei uns war der leitende Feuerwerker solcher Entschärfungsaktionen Jack Lang). Jedenfalls kann man diese - wenn auch ephemere - Entgiftungskur nur begrüßen.

Was den Staat angeht, so könnte man also von Selbstmord aus Verkennung der eigenen Interessen sprechen. Nun sind es aber die intermittents selbst, die man bezichtigt hat, sie seien "selbstmörderisch". Und in gewisser Hinsicht sind sie es auch, allerdings mit voller Absicht, und es geht dabei um etwas ziemlich anderes als sich eine Kugel ins Bein zu schießen. Jede Aktion, die groß zu nennen ist, hat eine Dimension des Selbstmörderischen und stellt die eigenen Privilegien infrage. Schon der Mai '68 war ein Akt der Selbstdestruktion - der Kultur, des Wissens und des universitären Privilegs.
[klar: also die streikenden selbst verweigern die fortsetzung des spektakels. aber das ist doch wiederum gut so, und zwar nicht etwa zur durchsetzung ihrer ziele, sondern eben zum beenden der sommerlichen orgie der kreation und konsumption. also hier kultur doch als schlechtes überflüssiges - nicht guter überfluss, nicht zweckfreies und unausnutzbares?]

Das Wissen, dessen Austausch unmöglich geworden war, auf ökonomischer und beruflicher Ebene (keine Berufschancen mehr) wie hinsichtlich der Beziehung des Wissen zu seinen Zielsetzungen - dieses Wissen hat '68 freiwillig abgedankt. Das war es, das Urereignis: Dass gerade der Generalstreik, der "nützliche" Streik, zu einer Entschärfung führte, dass es ihm aber gelungen war, jenseits der sozialen Bruchlinien eine symbolische Fraktur zu schaffen. Was politisch daraus wurde, ist nicht entscheidend - ein solches Ereignis ist nicht an seinen "nützlichen" Folgen zu messen. Aber wenn diese Art Einsatz, die durch den entehrenden Terminus "selbstmörderisch" entwertet wird, ausbleibt, gibt es auch kein Ereignis mehr, und das alte Spiel geht weiter.
[siehe oben: das "ereignis" gegen das "alte spiel". endlich mal ein standpunkt, der auch mir klar ist.]

Es handelt sich also sehr wohl um ein Attentat auf die Kultur. Nun ist unsere herrschende Kultur aber die einer Gesellschaft des Spektakels (die selbst zur kulturellen Farce geworden ist). Dieses "selbstmörderische" Attentat ist also ein Attentat gegen die Gesellschaft des Spektakels. Gerechte Revanche gegen das Spektakel durch die Leute des Spektakels selbst. Es ist eine Fraktion dieser Welt des Spektakels, die spektakulär geworden ist und die, indem sie abdankt, ihrer langsamen Auslöschung für einen Augenblick ein Ende setzt. Kultur, die durch programmierte, verschlingende Kulturalität bedroht ist, wendet sich gegen sich selbst.
[aha! es gibt eine gute und eine schlechte kultur. das klingt jetzt von MIR ironisch. solls aber gar nicht sein. denn diesen abschnitt finde ich richtig nachdenkenswert]

Man weiß, dass Kultur, die "wahre", für nichts gehalten wird. Sie ist gleichzeitig unschätzbar und überflüssig, ohne jeden Wert. Was also bleibt ihr anderes übrig, als zu gegebener Zeit sich in nichts zu verwandeln und Selbstmord zu begehen, um damit ihr Verschwinden zu dokumentieren? Indem die Kultur, das nicht tauschbare Residuum, geopfert wird, wird die Macht herausgefordert, und zwar auf die einzig mögliche Art, denn wirklich Angst hat die Macht nur vor dem Tod.

Dagegen kann man einwenden, dass die intermittents doch nur ihre Verweigerung gegenüber der Gesellschaft des Spektakels wiederum zum Spektakel machen - ganz in der Linie des integrierten Spektakulären a la Guy Debord (Die Gesellschaft des Spektakels). Ganz wie man gegen die Terroristen des 11. Septembers einwenden konnte, dass sie letztlich nichts anderes als das Spiel des Systems spielten. So gesehen gibt es überhaupt keine Möglichkeit der Kritik mehr, keinerlei Rückseite, von der aus die Kultur oder die herrschende Macht angreifbar wäre.

Doch es gibt ein Einvernehmen auf zweiter Ebene, wo Rück- und Vorderseite im Höllenband des Möbiusrings einander verlängern - sei es in dem der Gesellschaft des Spektakels oder dem der Globalisierung. Der Einwand ist berechtigt, und die Situation, jede Situation dieser Art ist heute unentscheidbar. Gleichzeitig ist sie schwer erträglich. An jedem liegt es, zu wählen und Position zu beziehen, im Handeln wie in der Theorie.

Aus dem Französischen von Ulrich Müller-Schöll.


aus: Frankfurter Rundschau vom 26. 7. 2003
vgl: http://213.187.75.204/ressorts/kultur_und_medien/feuilleton/?sid=972541ff66e7e75a6e399ee9b3bee7d0&cnt=257875

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